Ich wache auf und fühle mich genau so wie gestern, obwohl ich nun 16 Jahre alt bin. Heute habe ich Küchendienst und muss das Frühstück vorbereiten.
Plötzlich höre ich die vertraute Stimme der Köchin Magda, spüre von hinten eine feste Umarmung und höre, wie sie mir gratuliert: „Alles Gute, Rosalie. Und, wie fühlt es sich an, endlich 16 Jahre alt zu sein?“ „Naja, seit 13 Jahren sitze ich in diesem Waisenhaus fest. Ach, ich habe fast vergessen noch zu erwähnen, heute schleiche ich wieder raus um mich mit Oliver zu treffen. Weil wir ja heute beide Geburtstag haben,“ erwidere ich. Sie schaut mich mit einem leicht besorgten Blick an. „Pass ja auf, das letzte Mal wurdest du fast erwischt.“ „ Ja schon gut ich werde vorsichtiger sein.“
Als ich nach oben in den Schlafsaal gehe, rennt mir Magda hinterher mit einem kleinen verpackten Päckchen in der Hand.
„Ich habe fast vergessen, dir dieses Päckchen zu geben. Es ist von deinen Eltern, ich soll es dir an deinem 16. Geburtstag übergeben.“ Ich nehme das Päckchen und spüre, dass es etwas Besonderes und Wertvolles ist. Ich mache mich auf die Suche nach einem ruhigen Ort, wo ich das Päckchen auspacken kann.
Im Garten setze ich mich voller Vorfreude auf die Bank, lege das Päckchen in meinen Schoss und bewundere es noch eine Weile. Langsam löse ich die silberne Schleife und wickle ein kleines Schmuckkästchen aus. Es ist schwarz und hat einen edlen, silbernen Verschluss. Ich öffne es und ein leises Klicken ertönt. Ich erkenne ein kleines Glasfläschchen mit einem eingravierten Spruch darauf: ‚Möchtest du mich finden, so musst du wahren Schmerz empfinden, ein Tropfen so rot wie eine Rose, so wirst du eine Zeitlose.‘ Ich frage mich, was das wohl bedeuten könnte. Erst jetzt merke ich, dass neben dem Fläschchen eine rosé goldene, fein gegliederte Kette mit einem wunderschönen Rosenanhänger liegt.
Am Abend, als alle Mädchen ruhig schlafen, schleiche ich mich heraus. Auf dem Weg zu Oliver halte ich voller Freude sein Geschenk in meinen Händen. Ich habe einen Glücksbringer für ihn gemacht, es ist ein Kärtchen mit einem getrockneten, vierblättrigen Kleeblatt.
Am Treffpunkt angekommen, erblicke ich meinen besten Freund, der ein Kuchenstück mit einer Kerze in der Hand hält. „Oliver! Es ist so schön, dich zu sehen. Alles Gute zu deinem 17. Geburtstag!“ Oliver strahlt freudig: „Hier, nimm es. Es ist für dich, ein Stück deiner Lieblingstorte!“ Ich teile das Kuchenstück in zwei Hälften und gebe ihm ein Stück. Wir setzen und ich erzähle ihm von dem Geschenk meiner Eltern.
Ich nehme die kleine Schachtel aus meiner Rocktasche und öffne sie. Er nimmt die Kette heraus und legt sie mir um den Hals. Ich fahre mit der Hand über die filigrane Form des Rosenanhängers.
Plötzlich spüre ich einen Schmerz in meiner Fingerspitze und merke, dass ein Bluttropfen aus einer kleinen Stichwunde herausquillt.Ich habe mich an der Spitze des Anhängers gestochen und der Tropfen landet direkt auf dem Glasfläschchen. Das Blut sammelt sich seltsamerweise in dem eingravierten Schriftzug und beginnt rot zu glühen. Die Farbe erhellt zunehmend die ganze Gasse. In diesem Moment legt Oliver beschützend einen Arm um mich.
Ein lauter Knall ertönt, die Erde beginnt zu beben und langsam verblasst das Licht wieder. Ein starker Luftzug zieht Oliver und mich mit sich und wir landen brüsk auf einer alten Brücke. Ich boxe Oliver leicht in den Oberarm. Er öffnet seine Augen und schaut mich fragend an. Wir sind beide sprachlos. Ich folge seinem Blick und entdecke, dass das Fläschchen nicht mehr leer ist. Oliver nimmt es aus der Hand, reisst den Korken heraus und schüttelt den kleinen, zusammengerollten Zettel in seine Hand. Er entrollt ihn und liest ihn vor: „Hallo Rosalie, wenn du das liest wirst du dich wahrscheinlich schon auf deinem Heimatplaneten Maziona befinden. Das alles wird für dich sehr verwirrend und seltsam sein, aber keine Sorge, du bist nicht völlig allein, denn dieser Brief wird dich leiten und dir den Weg zu mir zeigen. Wenn dir je danach ist, mit mir Kontakt aufzunehmen, dann gibt es einen Weg. Das einzige, was du dafür tun musst, ist mit dem Ende des Rosenanhängers auf das Glasfläschchen zu schreiben. Natürlich kann ich dir auch zurückschreiben. Ich habe eine Aufgabe für dich, du musst die momentan herrschende Königin von Maziona von ihrem Thron stossen, da er gar nicht ihr, sondern uns zusteht. In Liebe, deine Mutter Celia Laurent.“
Wir beide sitzen schweigend auf der Brücke, als wir plötzlich das Geräusch ratternder Kutschenräder hören und uns eine kehlige Stimme zuruft: „Hey! Weg von der Brücke! Sie ist Grundstück der Königin!“ Die Kutsche bleibt direkt vor uns stehen. Da ertönt eine hochnäsige Stimme aus dem Inneren der Kutsche erklingt: „Ach Gustav, sei doch nicht so unhöflich. Lade sie doch zu uns ein! Wir hatten schon so lange keine Gäste mehr.“ Ich und Oliver schauen uns einbisschen verwirrt an, doch steigen schlussendlich in die Kutsche ein. Wir nehmen gegenüber einer noblen Frau Platz. Sie stellt sich uns vor: Sie näselt in einer künstlichen Stimme:
„Willkommen auf meinem Planeten Maziona, ich bin Königin Victoria.“
In ihrer Burg angekommen begleitet uns nach einer Führung Gustav, der Butler, zum prunkvollen Speisesaal. Nach dem Essen führt uns die Königin höchstpersönlich in unsere Schlafgemächer. Meines ist in einem viktorianischen Stil eingerichtet und Olivers in einem barocken. Unsere Zimmer sind durch eine Tür verbunden, die aus reinem Ebenholz besteht.
In der Nacht wache ich von einem hektischen Klopfen an der Verbindungstüre auf und höre panische Schreie aus der ganzen Burg: „Feuer! Es brennt! Holt Wassereimer und evakuiert die Gefangenen!“ Im Stimmengewirr höre ich Olivers verzweifelte Stimme: „Rosalie! Sag doch etwas! Wo bist du!?“ Überall ist Rauch und ich atme immer schwerer. Ich stürme aus dem Zimmer heraus. Undeutlich höre ich, wie Oliver hektisch in mein Ohr flüstert: „Wir müssen hier so schnell wie möglich weg!“
Wir kriechen den Flur entlang, geradewegs zum Tor, als mich jemand am Knöchel packt. Ich schreie auf und drehe mich ruckartig um. Durch den Rauch erkenne ich Königin Victorias Umriss und ein bösartiges Lächeln. Mit einer hämischen Stimme flötet sie: „Ihr entkommt mir nicht!“ Panisch drehe ich mich hilfesuchend zu Oliver um: „Geh raus! Geh allein zum Tor ich kann nicht mitkommen, sie hat mich am Knöchel gepackt.“ „Nein! Ich gehe nicht ohne dich! Komm schon ich helfe dir!“ ermutigt er mich „Nein ich will, dass du dich rettest!“ schreie ich. „Kinder, Kinder streitet doch nicht“ höhnt sie, „Ihr könnt einfach beide hier bleiben.“ lacht die Königin bösartig. „Komm schon Rosalie, ich werde nicht ohne dich gehen, aber wir können auch nicht bleiben!“ fleht Oliver. „Aber wir können das in aller Ruhe klären.“ säuselt Victoria, während sie immer fester meinen Knöchel packt. Ich versuche mich mit aller Kraft von ihrem Griff zu lösen. Oliver kommt mir zur Hilfe doch ich stosse ihn weg, da er sich retten sollte. Ich sehe vor lauter Rauch nichts mehr. Mir wird auf einmal schwarz vor Augen.
Als ich später aufwache, spüre ich ein Hämmern im Kopf. Ich liege in einem Himmelbett und blicke mich verwundert um. In einer Ecke steht ein Kleiderständer, an dem ein schönes Abendkleid hängt. Ich stehe langsam auf und entdecke eine Notiz, welche an dem Kleid befestigt ist: Bitte, ziehe es dir zum Abendessen an, Gustav holt dich ab. Xoxo, dein Tantchen.
Was? Ich begreife gar nichts mehr: Die Königin soll meine Tante sein. Ich laufe zur Tür, doch sie ist verschlossen. Verzweifelt rüttle ich am Türknauf und rufe um Hilfe, doch keiner hört mich. Ich renne zum Fenster und will es öffnen, aber auch das ist verschlossen. Plötzlich erinnere ich mich an die Worte meiner Mutter: Nehme das Fläschchen und den Rosenanhänger hervor. Gesagt, getan. Ich nehme den Anhänger und beginne verzweifelt auf das Fläschchen zu schreiben:
Hallo Mutter, ich weiss nicht mehr was ich tun soll, ich wurde eingesperrt und finde Oliver nicht mehr! Ich brauche dich! Wo steckst du bloss?‘ Wie ich den letzten Buchstaben schreibe, verschwinden die ersten Worte schon wieder und schon bald ist der ganze Text weg. In Sekundenschnelle erscheint zu meinem Erstaunen eine Antwort meiner Mutter: Mach dir keine Sorgen Chérie, ich und dein Freund Oliver wurden von deiner Tante im Kerker eingesperrt. Oliver erzählte mir, dass du ohnmächtig geworden bist. Momentan geht es uns gut, aber du musst uns helfen. Egal was dein Plan ist, hol uns so schnell wie möglich hier raus. Aber pass auf: Die Königin hat mehrere Kerker im Schloss, der süd-westliche ist heute abgebrannt also hat sie alle Gefangenen in die restlichen verteilt. In Liebe deine Mutter.“ Sodannverschwinden die Worte vom Fläschchen. Ich überlege mir einen Plan.
Ich werde durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen. Ein Mädchen etwa in meinem Alter tritt ein, lächelt mich schüchtern an und säuselt: „Ich bin hier, um dich für das heutige Abendmahl zu frisieren und dir mit dem Kleid zu helfen.“ Erst hilft sie mir beim Ankleiden. Sie kämmt mich kunstvoll und schminkt mich. Ich bin ganz verändert. Ich betrachte mich etwas befremdet im Spiegel. Das Mädchen packt ihre Utensilien wieder ein und verlässt leise das Zimmer. Einige Zeit später holt mich Gustav zum Abendmahl in den Speisesaal. Er führt mich zu meinem Platz. Kurz darauf betritt die Königin in einem bordeauxroten Abendkleid den Raum. Sie setzt sich elegant hin. Es duftet jäh nach Rosen. Die Königin lädt zum Essen. Es herrscht ein unangenehmes Schweigen. Aus heiterem Himmel lässt sie ihre Gabel auf den Porzelanteller fallen und fängt mich zu beschimpfen an: „Ich habe alles für dich getan! Ich habe nur für dich Spione auf die Erde geschickt! Und dieser Oliver, ein schnöder Junge. Du bist ein genau so undankbares Miststück wie deine Mutter!“ Wütend stehe ich auf; „Wen nennst du hier ein Miststück? Du bist doch die, die meine Mutter vom Thron gestossen hat, oder etwa nicht!?“ schreie ich. „Oder bist nicht du es, die meine Mutter und Oliver im Westkerker eingesperrt hat, obwohl sie dir nichts getan haben!?“ Ich muss ein Schluchzen unterdrücken. „Ach du naives Ding. Erstens habe ich keinen vom Thron gestossen und zweitens sind deine Mutter und Oliver nicht im Westkerker sondern im Südkerker eingesperrt.“ höhnt sie.
Ich stürme aus dem Speisesaal, ohne ein weiteres Wort zu sagen, doch innerlich lache ich sie aus, da sie mir gerade genau verraten hat, zu welchem Kerker ich hingehen muss. Ich renne durch die Gänge und versuche, trotz meines gewaltigen Kleides nicht zu stolpern. Suchend blicke ich mich um und sehe die Kammerzofe, die vorhin bei mir war. Ich probiere sie unauffällig zu mir herüberzuwinken und frage sie, wo sich der Südkerker befindet, doch sie antwortet in panischer Stimme: „Wieso willst du das wissen?“ Sie atmet schwer und ich merke ihr an, dass sie diese Frage nicht beantworten will. Das ist mir aber egal, da jetzt das Wichtigste ist, meine Mutter und Oliver zu befreien. „Ich frag es dich jetzt noch ein einziges Mal.“ Ich hole tief Luft und wiederhole die Frage, währenddem ich sie am Kragen packe: „Wo ist der Südkerker?“ Ängstlich probiert sie, sich meinem Griff zu entwinden. Schliesslich gibt sie nach und deutet mir an, ihr zu folgen. Wir schleichen durch die Gänge, bis wir an einer Holztür ankommen und sie eine Haarklammer aus meinen Haaren zieht, mit der sie ein verrostetes Schloss öffnet. Als sich die Tür einen Spalt breit öffnet, sehe ich eine schmale Treppe, die tief nach unten geht und von Fackeln beleuchtet wird. Auf dem Weg nach unten höre ich Stimmen, die durcheinander sprechen, zum Teil höre ich sogar flehende, schmerzerfüllte Schreie.
Als wir unten angekommen sind, sehe ich Oliver, der von einem bärenartigen Mann hinter sich her gezogen wird. Ich erkenne hinter ihnen die Tür zur Folterkammer. Geschockt und den Tränen nahe will ich losrennen, doch ich stolpere über den langen Saum meines Kleides. Ich liege auf dem kalten Kellerboden und probiere nach Olivers Bein zu greifen, währenddem mir immer mehr Tränen in die Augen steigen. „Nein Rosalie, lauf weg, solange du noch kannst! Bitte verschwinde und rette deine Mutter!“ ruft er mit verzweifelter Stimme. „Nein, ich gebe dich nicht auf.“
Da saust ein Pfeil an mir vorbei und trifft direkt die Schulter des Folterers, der vor Schmerz in die Knie geht und Oliver loslässt. Oliver rappelt sich hastig auf, zieht mich auf die Beine und führt uns eilig zu dem hintersten Kerker, in dem sich eine braunhaarige Frau befindet. „Rosalie!“ flüstert sie mit belegter Stimme. Tränen kullern aus ihren smaragdgrünen Augen. Für ein paar Sekunden stehe ich wie angewurzelt da. Was soll ich schon in solch einer Situation tun? „Ich hole dich hier raus, Mutter.“ wispere ich. Die Kammerzofe Carla steht direkt hinter mir. Ich ziehe die letzte Haarklammer aus meinem Haar und feuerrote Locken umspielen mein Gesicht. Ich reiche Carla die Klammer und beobachte, wie sie das Schloss knackt. Mit einem lauten Klicken schwingt die Kerkertür auf. Meine Mutter fällt mir in die Arme und drückt einen Kuss auf meinen Kopf.
Da hören wir die Schritte der bewaffneten Soldaten. Ich weiss, dass Victoria im Anmarsch ist und für einen kurzen Moment bleibt mir das Herz stehen. Der Trupp, an deren Spitze Königin Victoria, marschiert den Gang entlang und hält direkt vor uns an. Victoria stemmt ihre Hände in die Hüfte und schaut uns mitleidig an. „Na, ihr seid aber nicht weit gekommen, nicht wahr? Wisst ihr, dass derjenige eine Strafe bekommt, der sich meinen Befehlen widersetzt?! Dieser verliert eine ihm sehr wichtige Person und wird sie nie wiedersehen. Du verstehst schon bald, was ich meine. Gustav! Gib mir die Kugel!“, spottet sie.
Er reicht ihr die Kugel.
Jäh schreit meine Mutter: „Nein! Alle in Deckung!“ Aber zu spät. Ich sehe nur noch eine goldene Kugel in Richtung von Oliver fliegen. Er versucht vergeblich auszuweichen. Die Kugel trifft ihn und ein goldener Blitz leuchtet auf. Ein riesiges Portal öffnet sich. Oliver wird langsam reingezogen, doch krampfhaft hält er sich an den Gitterstäben der Kerkertür fest. „Rosalie! Egal was passiert, ich weiss, du wirst es schaffen! Bitte vergiss mich nicht! Ich werde dich immer lieben“ Seine Stimme verstummt.
„Nein! Was hast du getan!? Du Monster! Wie konntest du nur!? Du hast mir meine einzige Familie genommen, die ich je hatte!“ Intuitiv werfe ich mich mich auf den Boden und greife nach der Goldkugel. Doch bevor ich sie erreiche, sehe ich in Zeitlupe, wie der lange Schuhabsatz von Königin Victoria mit voller Wucht in die Kugel hineinsticht. Es gibt einen Knall und die Erde zittert. Die Kugel liegt zersplittert am Boden. Ich weine hemmungslos. Hinter der Königin taucht ein mir bekanntes Gesicht mit Pfeil und Bogen auf und nimmt sie ins Visier. Der Pfeil durchschneidet die Luft, trifft und durchbohrt das Herz der Königin. Mit einem letzten gellenden Aufschrei geht sie zu Boden und ist endgültig aus dem Weg geräumt.
Eine Woche darauf besteigt meine Mutter den Thron und ist nun wieder rechtmässige Königin von Maziona und ich, ihre Tochter, bin die Prinzessin. Von Oliver fehlt bis heute jegliche Spur. Trotzdem: Der mutige Sprung ins Universum hat sich gelohnt.
Autorinnen: Maryam & Zoé