Ich schloss meine Lider und sprang. Kalte Luft blies mir die Haare aus dem Gesicht, während ich immer tiefer fiel. Ich hatte das unvergleichbare Gefühl von Schwerelosigkeit. Meine Augen hielt ich geschlossen.
Schon bald schlug ich auf hartem Boden auf, doch erstaunlicherweise verspürte ich überhaupt keine Schmerzen. Langsam öffnete ich meine Augen und hob meinen Kopf. Das Erste, was ich erblickte, war eine steil abfallende Felswand. Erschrocken stolperte ich zwei Schritte zurück. Um ein Haar wäre ich bei meinem Sprung direkt in einen tiefen Abgrund gefallen! Als ich mich umschaute, erblickte ich nur karge Landschaft, schroffe Felsen und keine Anzeichen von Leben. Langsam setzte ich mich in Bewegung. Kleine Steinchen knirschten unter meinen Schuhen und der Wind peitschte mir um die Ohren. Ich dachte an meinen Vater, der es sich seit meiner Kindheit zur Aufgabe gemacht, mich mit der alten, verschlossenen und scheinbar ins Nichts führenden Tür vertraut zu machen. Nun hatte ich diese Tür geöffnet und den Schritt hindurch gewagt: Ich sprang das erste Mal in meinem Leben ins dahinter liegende Universum.
Plötzlich durchfuhr mich ein grosser Schreck. Mein Vater hatte das Wichtigste vergessen! Er hatte mir nie erzählt, wie ich wieder zurück auf die Erde kam! Ich bekam ich es mit der Angst zu tun. Die Enttäuschung und Wut über meinen Vater trieben mir fast die Tränen in die Augen.Wie konnte er das nur vergessen?
Aus purer Verzweiflung beschleunigte ich meine Schritte, auf der Suche nach irgendetwas, das mir irgendwie, wenigstens ein bisschen, Hoffnung schenken würde. Tatsächlich stiess ich wenig später auf eine fast zerfallene Holzhütte. Ich schob die Tür auf und traute meinen Augen kaum. Ich befand mich in einer ganz anderen Welt: Ein See glitzerte inmitten von bunten Blumen und saftig grünen Bäumen. Doch immer noch: kein Leben weit und breit. Ich wanderte ziellos umher und grübelte, wie ich von diesem unbekannten Planeten wieder zurück auf die Erde kam. Ich fühlte mich so verloren, wie noch nie in meinem fünfzehn Jahre langen Leben.
Plötzlich ertönte eine hohe und kalte Stimme hinter mir. Sie passte überhaupt nicht in diese wundervoll mystische Umgebung. Erschrocken fuhr ich herum, doch da war niemand. Mein Puls ging immer schneller. Zu wem gehörte diese unheimliche Stimme? Ich schlich um einen Baum herum und vor mir erhob sich eine dunkle Gestalt. Von der Postur her ging ich davon aus, dass die Gestalt weiblich war. Ihr Gesicht wurde von einer schwarzen Kutte verdeckt, deren Kapuze bis weit über die Stelle reichte, an der ich ihre Augen vermutete. Ich fuhr aus meiner Schockstarre heraus und meiner Kehle entwich ein spitzer Schrei. „Antworte mir“, befahl die Frau. „Wie bitte?“, fragte ich verwirrt. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass sie etwas gesagt hatte. „Was suchst du hier?“, wiederholte die Gestalt ihre Frage, während sie langsam auf mich zuschritt. „Ich, ich weiss nicht genau“, stotterte ich, „ich bin zufällig hier gelandet. Ich weiss ja nicht einmal, wo ich hier bin.“ Dieses abscheuliche Wesen stand nun nur noch etwa zwei Schritte von mir entfernt. Ich versuchte nach hinten auszuweichen, doch die Angst lähmte meine Glieder. Sie schenkte mir nur ein herablassendes Lachen. „Wo wir hier sind?“, fragte die Gestalt mit einer leicht ungläubigen Stimme. „Wir sind hier auf dem Planeten Zaryan und ich herrsche über alles hier. Über jeden Kieselstein unter deinen Sohlen, über jeden Regentropfen, der deine Haut berührt und über jeden Windhauch, der deine Haare zerzaust“ Mit diesen Worten zerrte sie mich mit sich. Ich starrte auf die Hand, die sich um mein Handgelenk schloss. Die Haut war fast weiss und fühlte sich ganz kalt an. Meine Entführerin zog mich immer weiter durch das höher werdende Gras.
Plötzlich standen wir oben an einer unendlich tiefen Schlucht und ich blieb abrupt stehen. Anscheinend war dies ein Fehler, denn die Finger schlossen sich gleich noch enger um mein Handgelenk, sodass ich einen Schmerzenslaut unterdrücken musste. Kurz sah es so aus, also ob wir gleich springen würden, doch mit einem Ruck liess der Druck an meinem Handgelenk nach und dem verwunderten Blick nach zu urteilen, hinderte irgendetwas meine Entführerin daran, mich zu berühren. Ein starker, aber warmer Wind kam auf und zerrte wie verrückt an mir. Ich schloss meine Augen, presste die Hände vors Gesicht und hoffte, dass nichts Schlimmes passierte.
So plötzlich wie sie gekommen war, verschwand die Windböe auch wieder. Als ich meine Augen wieder öffnete, erfasste mein Blick die Frau, die mich entführt hatte: Ich erschrak. Die Kapuze war vom Wind heruntergeweht worden und offenbarte lange, kastanienbraune Haare. Dunkelgrüne Augen starrten mich an. Ich konnte die Angst und die Scham in ihrem Blick sehen.
Jäh nahm ich eine Bewegung neben mir war. Ich drehte den Kopf und blickte direkt in ein lächelndes Gesicht, umrahmt von blonden Locken. „Emilia!“, stammelte die Frau. „Fünfzehn lange Jahre habe ich dich nicht mehr gesehen“. Die Fremde streckte ihre Hand aus und berührte sanft meine Wange. Sie fühlte sich ganz warm an. „Wer sind sie?“, fragte ich verwirrt. Ich wollte nun endlich verstehen, was hier vor sich ging. Zuerst zögerte sie, doch dann antwortete sie: „Ich“, ihre Stimme fing an zu zittern und Tränen glitzerten in ihren Augen, „bin deine Mutter“. Was? Nein, das konnte ich nicht glauben. Meine Mutter starb bei meiner Geburt! Das war einfach nur lächerlich. „Und wer ist das?“, ich deutete auf die mittlerweile am Boden kauernde Gastalt, die mich entführt hatte. Meine angebliche Mutter schnaubte abfällig. „Das ist meine Schwester“. Ihre Stimme klang ganz hasserfüllt. „Anscheinend bist du nicht gerade gut auf sie zu sprechen.“, sagte ich deshalb. „Nein, bin ich nicht. Deine Tante wollte dich unbedingt für sich haben. Sie meinte, sie würde dich unbedingt für irgendeine Mission brauchen. Sie wollte mir aber nie verraten, was für eine Mission das genau ist. Deshalb gab ich dich nicht her. Du hast es ja vorher selbst miterlebt. Wenn es nach Annabelle ginge, wäre sie ohne zu zögern mit dir in diese Schlucht gesprungen. Ihr wärt dabei wahrscheinlich beide gestorben. Die einzige Möglichkeit bestand deshalb darin, dass du und dein Vater von hier flüchteten und ich alleine mit meiner Schwester hier blieb. Ja, und jetzt bist du hier.“ Ich war sprachlos. Wollte diese Frau mir etwa weismachen, dass ich eine Ausserirdische war? Diese Vorstellung war absolut unrealistisch, aber auch traurig, denn das würde bedeuten, dass mein Vater mich mein ganzes Leben lang belogen hatte. „Es tut mir sehr leid, doch ich möchte unbedingt wieder nach Hause und diese Geschichte klingt nicht sehr glaubwürdig.“ „Weisst du überhaupt, wie du wieder zurückkommst?“, fragte meine Mutter argwöhnisch, ohne auf mich einzugehen. Tja, das hatte ich tatsächlich nicht bedacht. „Nein, aber das werde ich bestimmt noch herausfinden“, antwortete ich selbstbewusster, als ich mich eigentlich fühlte. Meine Mutter schritt noch näher an mich heran und ich wich instinktiv zurück. „Du darfst und musst sogar zurück auf die Erde, doch alleine wirst du das nie schaffen.“ „Dann kannst du doch mitkommen“, sagte ich hoffnungsvoll. „Nein, das geht nicht. Ich muss diesen Planeten vor meiner Schwester beschützen. Dir ist wahrscheinlich aufgefallen, dass ausserhalb der Holzhütte die Landschaft schon total verwüstet ist und fast nichts mehr von diesem ehemals so grünen und fruchtbaren Planeten übrig geblieben ist.“ Ihre Stimme klang ganz traurig, während sie diese Worte aussprach. „Annabelle hat mit ihren dunklen und bösen Gedanken, alles verunreinigt.“
Unerwartet kam Bewegung in meine am Boden kauernde Tante und sie sprang auf. „Du darfst nicht gehen.“, rief sie und rannte jetzt beinahe auf mich zu. „Ich brauche dich. Du musst mir helfen, dass ich die Herrschaft über Zaryan übernehmen kann. Meine Gedanken allein reichen nicht aus, um gegen Aurelias starken Willen anzukämpfen.“ Dieser Frau stand der blanke Wahnsinn in den Augen. Dachte sie ernsthaft, dass ich ihr bei ihrem Kampf, an die Macht zu kommen, half? Aus Annabelles Worten schloss ich, dass meine Mutter die rechtmässige Königin von diesem Planeten war. „Ich kann mein Ziel nur erreichen, wenn du mir dabei hilfst. Noch ist der Wille deiner Mutter noch zu stark und ich werde immer schwächer. Du jedoch, bist dazu geboren mit deinen Gedanken zu herrschen und hast viel mehr Kraft als wir beide zusammen.“ Die Frau klang richtig verzweifelt, so als ob ihr ganzes Leben davon abhing. „Nein, das kann ich nicht tun. Ich will zurück nach Hause.“ Ich drehte mich schon zum Gehen, da packte mich meine Mutter am Arm und hielt mich fest. „Es bringt dir nichts, wenn du jetzt einfach losrennst und dich womöglich verirrst oder gar verletzt.“ In diesem Punkt hatte sie natürlich recht. „Aber mir reicht es einfach. Ich will sofort zurück, sonst raste ich aus.“ Meine Stimme wurde immer lauter und nahm einen gefährlichen Unterton an. Dies bemerkte auch meine Mutter, denn sie liess mich los. „Jetzt hör mir mal gut zu. Ich werde dich zurückbringen, doch als Gegenleistung musst du mir helfen, deine Tante zu besiegen. Du bist die einzig wahre Thronfolgerin!“. „Na gut, dann sag mir, wie ich dir helfen kann.“ „Du musst nur denken.“, die Antwort verblüffte mich so sehr, dass ich mich fragte, ob das nicht irgendein Trick war, nur damit ich hierblieb. Ich bedachte meine Mutter mit einem fragenden Blick. „Du musst dir nur vorstellen, was du willst!“. Das klang so einfach. Irgendetwas stimmte hier nicht. Trotzdem startete ich einen Versuch. Ich schloss meine Augen und dachte an blühende Blumen, saftig grüne Wiesen und prächtige Obstbäume. Ich war beinahe überwältigt von meiner Vorstellung. Auf einmal nahm ich ein sanftes Prickeln in meinen Fingerspitzen wahr. Das Gefühl von grenzenloser Macht durchströmte mich. In diesem Moment konnte ich alles erreichen. Plötzlich schnappte jemand neben mir nach Luft. Ich blickte auf und konnte meinen Augen nicht trauen. Zu meinen Füssen wuchsen ein paar einzelne Grashalme aus dem steinigen Boden. Die Stimme meiner Mutter hatte einen bewundernden Unterton. „Mach weiter“. Ich gehorchte und schloss wieder meine Augen. Diesmal kehrte das Kribbeln schneller zurück in meine Finger und breitete sich in meinen ganzen Armen aus. Ich stellte mir wieder weite Wiesen und bunte Blumen vor. Das warme Kribbeln wurde immer stärker. Plötzlich war da noch etwas anderes. Etwas Starkes, aber Dunkles. Es machte mir Angst und meine Gedanken konnte ich nicht mehr kontrollieren. Ich wollte mich dagegen wehren, doch die Kraft war zu stark. In meiner Verzweiflung zwang ich eine Erinnerung aus meiner Kindheit in meinem Kopf aufleben zu lassen:
Ich war fünf Jahre alt und rannte in einem Sommerkleid über eine grüne Wiese. Das Bild wurde immer deutlicher. Ich konnte schon die Blumen sehen und die Bäume gewannen immer mehr an Farbe. Das saftig grüne Gras konnte ich schon fast spüren und ein sanfter Wind strich mir übers Gesicht. Die Kraft in mir liess ganz langsam nach und die Müdigkeit überrollte mich. Ich sank auf die Knie. Das Letzte, was ich hörte, war ein „Danke“, dann schlief ich ein.
Ich spürte eine schwere Hand auf meinem Arm ruhen und öffnete die Augen. Mein Blick erfasste ein Bild an der Wand, das mir aussergewöhnlich vertraut vorkam. Weiter unten befand sich meine altmodische Komode. Dieser Gedanke schien mir unrealistisch, doch er entsprach der Wahrheit. Mein Blick fiel auf mein Handgelenk, das zwar überhaupt nicht schmerzte, aber eindeutige Spuren einer fremden Hand aufwies. Ich traute meinen Augen kaum. Es gab nun wirklich keinen Zweifel mehr. Ich war fortgewesen – im All. Erleichtert und überglücklich blickte ich direkt in das lächelnde Gesicht meines Vaters.